Gewöhne dich auch an Dinge, da denen du verzweifelst

Gewöhne dich auch an Dinge, da denen du verzweifelst

Audio | 20.09.2025 | Dauer: 00:04:08 | SR kultur - (c) SR

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Die Römer wollen im Tiber wieder baden können. So lese ich‘s in der Zeitung. Das Schwimmen im geschichtsträchtigen Fluss war seit Jahrzehnten nicht mehr möglich. Zu schmutzig das Wasser. Nun werden sie in Rom einen langen Atem brauchen. Die Natur wird‘s ihnen danken. In Paris hat man es schon geschafft - nach fast einem Jahrhundert Badeverbot öffneten im Juli drei offizielle „plages“ – Badestellen an der Seine. Schwimmen mitten in der Großstadt - zu meiner Kindheit unvorstellbar! Der römische Kaiser Marc Aurel konnte als Kind wohl noch im Tiber planschen, oder vielleicht auch nicht – wer weiß. Von ihm lese ich eine bemerkenswerte Weisheit: „Gewöhne dich auch an Dinge, an denen du verzweifelst“. Marc Aurel lebte um einhundertfünfzig nach Christus und ihm sind zurzeit zwei Ausstellungen in Trier gewidmet. Vor allem durch seine Selbstbetrachtungen ist Marc Aurel berühmt geworden. Unter den römischen Kaisern gilt er als der Philosoph und als ein guter Herrscher. Aber was macht einen guten Herrscher aus? Dass er sich daran gewöhnt, an Dingen zu verzweifeln? Besteht gute Politik aus stoischer Gelassenheit, Nehmerqualitäten? Vielleicht brauchte der Regent so einen langen Atem. Aber seine Worte klingen auch leicht resigniert: „Gewöhne Dich auch an Dinge, an denen Du verzweifelst.“? Sollen wir hinnehmen, was anscheinend nicht zu ändern ist? Wo bleibt da die Hoffnung? Erzählt das gute Beispiel von Paris nicht eine andere Geschichte? Ich habe nachgeschlagen. Marc Aurels Worte klingen in der griechischen Originalfassung viel dynamischer. „Verzweifeln“ heißt nicht mitansehen und den Kopf schütteln, sondern immer wieder probieren, wenn auch noch vergeblich. Das ist also ein sehr aktives Verzweifeln. Ein Nochmal-und-nochmal-und-nochmal-versuchen, bis es gelingt. Und „gewöhne dich“ meint bei Marc Aurel nicht die Annahme der Aussichtslosigkeit, sondern ganz im Gegenteil die Annahme des Kampfes. Man könnte seine Worte auch so übersetzen: „Mache Dich vertraut auch mit den Dingen, an denen du lange scheiterst.“ Oder kurz gesagt: Gib nicht auf! Bleib hartnäckig! Und werde nicht ungeduldig! Behalte die Hoffnung! Zum Beispiel, dass es gelingen kann, einen ganzen Fluss wieder sauber zu bekommen. In der Bibel gibt es den Gedanken auch, nur unter umgekehrten Vorzeichen. In der Bibel ist es Gott, der sich vertraut macht mit uns Menschen - je mehr er an uns verzweifeln könnte. Vom Brudermord des Kain über den Tanz ums goldene Kalb bis hin zu König Herodes. Immer wieder siegt der Eigensinn des Menschen – zum Schaden aller. Gott bleibt trotzdem hartnäckig liebevoll, versucht sich an uns zu gewöhnen. So bleibt Gott dem Menschen zugewandt, trotz allem, und wird schließlich selbst Mensch, damit wir seinen langen Atem erkennen. „Gewöhne dich auch an Dinge, an denen Du verzweifelst.“ In dem Spruch steckt mehr Kraft für gute Politik, als man denkt. Ich wünsche den Römern, dass sie dereinst tatsächlich im Tiber werden baden können. Ich wünsche allen, die uns regieren, einen langen Atem, dass sie die großen Ziele nicht den kurzsichtigen Erfolgen opfern. Ich bitte für mich selbst um Hartnäckigkeit, Geduld und Hoffnung bei allem, woran ich heute noch verzweifle. Gut dabei zu wissen, was Marc Aurel nicht ahnte: Gott wird mit uns Menschen am Ende nicht baden gehen.

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